Von Markus Eisele
Mittwochmorgen. Berliner Straße. Unweit der Paulskirche liegt eine ältere Frau, tief in ihren Schlafsack gehüllt, ihr Gesicht lugt kaum heraus. Daneben die Tüte mit den eingesammelten Flaschen, ihr Tagesverdienst. Ein Mann im Anzug geht auf sie zu. Ich beobachte ihn. Schaut er, wie es ihr geht? Da legt er ihr seine Tüte mit Brötchen hin. Mich rührt diese Geste der Menschlichkeit. Warum? Weil sie auf ein tiefes Mitgefühl für die Lage der Nächsten schließen lässt. Und weil ich zugleich fürchte, dass uns diese Form von Güte zunehmend abhandenkommen könnte, wenn wir nicht sehr aufpassen.
In was für einer Stadt wollen wir leben? Diese Frage sollte uns Frankfurterinnen und Frankfurter gerade jetzt wieder aufs Neue bewegen. Mich jedenfalls beunruhigt die sehr merkliche Diskursverschiebung in unserer Gesellschaft, die besonders im sozialen Bereich sichtbar wird. Der kollektive Egoismus nimmt zu, und manche stellen die Wohlfahrt unter Generalverdacht. Auch in Alltagsgespräche schleichen sich neue Töne, die uns nachdenklich stimmen müssen.
„Eine Innenstadt für alle“ wurde vor wenigen Tagen ein Positionspapier einer Partei überschrieben, das gleichzeitig zumindest einer Gruppe von erkrankten Menschen mit Behinderung das Recht abspricht dazuzugehören, nämlich den Drogenkranken. Die Frankfurter Innenstadt möge sauber und sicher sein, damit wieder ein attraktives Stadtzentrum entstehe, steht dort zu lesen.
Gesehen in einem Frankfurter Stadtviertel. (Foto: Peter Weidemann)
Was aber ist der Preis eines solchen Denkens, das Menschen vor allem als Problem wahrnimmt? Als Träger sozialer Einrichtungen hören wir in letzter Zeit verstärkt, dass die Nichtkonformen, die Auffälligen, den Alltag stören. Seien es die Obdachlosen, die Fremden oder eben auch die Drogenabhängigen – sie sollen möglichst unsichtbar werden, auf Straßen und Plätzen nicht mehr auffallen.
Die Frage, wem unsere Stadt gehört, muss deswegen sehr grundsätzlich gestellt werden. Wer bestimmt, wer sich auf welche Weise an welchen Orten aufhalten darf? Und auch: Welche Wahrheit über die Fragilität unseres Lebens, wie viel Armut und Not, muten wir uns im Stadtbild zu?
Menschen leben nicht von ungefähr auf der Straße, sie waren auch nicht einfach so in der Psychiatrie und liegen nicht ohne Vorgeschichte mit Drogenproblemen am Boden. Wer von den Lebensgeschichten hört, die in Armut, Obdachlosigkeit, Drogensucht und Elend geführt haben, weiß, wie kurz der Weg oft ist.
Abstrakt von diesen Gestrandeten zu sprechen, blendet Kontexte aus und sieht sie als Problem für die „funktionierende Stadt“. Wer hingegen bereit ist, dem einzelnen Menschen zu begegnen und in ihm ein Geschöpf Gottes mit gleicher Würde zu erkennen, der erlangt – in religiöser Sprache – eine Haltung der Barmherzigkeit, öffnet das Herz für die fremde Not und nimmt sich ihrer an.
Das Zusammenleben in unserer diversen und multireligiösen Stadt fußt auf vielen Fundamenten, zugleich ist es weiterhin nachhaltig von der jüdischchristlichen Tradition geprägt. So rühren die jahrtausendealten Bilder der Glaubenstradition auch heute noch viele Menschen an, die sich explizit als nicht religiös verstehen.
„Wenn ein Armer in deiner Mitte ist, so verhärte nicht dein Herz und verschließe nicht deine Hand vor deinem armen Bruder. Geben sollst du ihm wiederholt und dein Herz sei nicht böse, wenn du ihm gibst“ (5. Buch Mose, Deut. 15,7).
Die jüdische Bibel hebt die Rechte der Armen von Beginn an hervor. Der hebräische Begriff zedaka – am ehesten mit Gerechtigkeit und Wohlfahrt zu übersetzen – zielt auf ein am Gemeinwohl orientiertes Handeln. Wer dagegen nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, verpasst „Recht und Gerechtigkeit“. Die Aufforderung, auch in prekärer Lage nach dem Schalom der Stadt, also nach dem sozialen Frieden und Ausgleich zu suchen, ist vom Propheten Jeremia überliefert. Jesus hat sich mit seinen Reden und durch sein Leben in dieser Tradition verstanden und sich klar auf die Seite der Armen und Bedrückten gestellt. Um die, die von vielen anderen ausgeschlossen wurden, hat er sich zuerst gekümmert und fordert Gleiches von anderen:
,,Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lk 6,36)
Erst kürzlich hat der US-amerikanische Vizepräsident J.D. Vance die Lehre des Kirchenvaters Augustinus von der „Ordnung der Liebe“ grob verfälschend ausgelegt, als gebe es eine Rangfolge der Nächstenliebe. Zuerst die eigene Familie und dann in konzentrischen Kreisen zu den immer ferneren „Nächsten“ – falls dann noch ein Rest von Nächstenliebe übrig bleibt. Papst Franziskus hat das noch kurz vor seinem Tod umgehend richtiggestellt: Nächstenliebe kennt keine Rangfolge. Sie ist universell und fragt gerade nicht danach, ob der Nächste der Hilfe würdig ist.
Symbolbild (Foto: Peter Weidemann)
Wenn nun in das private und öffentliche Denken und Reden ein neuer Duktus Einzug hält, der das Wohlgefühl der angeblichen Mehrheit über die Bedarfe und Bedürfnisse der besonders Verletzlichen stellt, wer zahlt dann den Preis? In erster Linie diejenigen, die von Exklusion bedroht sind und deren Rechte und Würde angegriffen werden. In umfassender Perspektive zahlen aber wir alle den Preis, wenn uns die Humanität abhandenzukommen droht. Der Blick über den Atlantik lässt uns erahnen, wie schnell das passieren kann. Nicht umsonst hat Bischöfin Marianne Budde in ihrer Predigt zur Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump eindringlich in Gottes Namen um Milde, Nächstenliebe und politisches Erbarmen für die vielen von Diskriminierung Betroffenen gebeten.
In Deutschland und gerade auch in Frankfurt stehen wir an einem ganz anderen Punkt. Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass unser Sozialstaat – bei allen Problemen im Einzelnen – auch weiterhin ein starkes Netz bietet, damit Menschen mit Unterstützungsbedarf eben nicht ins Bodenlose fallen.
Umso mehr muss die Stadtgesellschaft der Versuchung widerstehen, in ein neues Narrativ einzustimmen, das die Verantwortung für Schwierigkeiten im Leben dem Einzelnen zuschiebt und die strukturelle gesellschaftliche Mitverantwortung ausblendet.
Diese Stadt gehört allen, die in ihr leben. Alle dürfen und sollen hier in Frankfurt sichtbar sein. Schon allein dem Gedanken, dass Gebiete wie das Bahnhofsviertel für bestimmte Gruppen der Bevölkerung unzugänglich gemacht werden sollen, ist zu widersprechen.
Wir sind gefordert, auch weiterhin eine Kultur des Rechts und zugleich der Barmherzigkeit, individuell und strukturell, zu leben. Dazu gehört, dass wir als Gesellschaft – in Politik und Verwaltung, in Wirtschaft und Wohlfahrt – die Ursachen für die vielfältigen Problemlagen, seien es Drogenkonsum oder Wohnungslosigkeit oder anderes, angehen, und die Rahmenbedingungen für soziale Einrichtungen mit ihrer fachlichen Expertise sichern. Kurz: Zuwendung statt Ausgrenzung, Hilfe statt Vertreibung und Würde statt Stigma.
Armen und Bedürftigen zu begegnen, führt uns vor Augen, dass es auch diese Wirklichkeit in unserer Stadt gibt. Sich daran erinnern zu lassen, ist eine kostbare Schule des Herzens für uns alle.
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